Einblicke in eine heitere Religion
Ein halbes Jahr lebte der Regisseur Philip Gröning in einem
Kloster der Karthäuser und filmte für "Die große Stille" den Alltag
der schweigenden Mönche
von Regina Goldlücke
Popcorn kauen? Bonbons aus Knisterpapier pellen? Mit dem Nachbarn
flüstern? Das macht keiner. Nicht in diesem Film. Mit Philip
Grönings Meisterwerk "Die große Stille" wird das Kino zur Klausur.
Nach 161 geräuscharmen Minuten erscheint jedes laute Wort wie
unbotmäßiger Lärm. Man lauscht den eigenen Schritten auf dem
Pflaster nach. Betrachtet Autos, Straßenbahnen, Lichter und
Passanten, als käme man aus einer anderen Welt.
Kommt man ja auch. Dem 1959 in Düsseldorf geborenen Regisseur
gelingt mit seinem Dokumentarfilm in mehrfacher Hinsicht Einmaliges.
Schon die Entstehungsgeschichte gleicht einer gut erfundenen
Legende. Bereits mit Mitte 20 sucht der Student der Münchner
Filmhochschule nach einem romantischen Ideal und sehnt sich nach
Rückzug und Abgeschiedenheit. Er bittet bei "La Grande Chartreuse",
dem strengsten aller Schweigeorden, um Aufnahme, will einen Film
über das Leben der Mönche drehen.
Aber dazu sind die Karthäuser nicht bereit. Noch nicht. Man werde
sich zu gegebener Zeit melden, schreibt der Prior. Und löst sein
Versprechen 19 Jahren später ein. "Da steckte ich in der
Endproduktion eines Film und war mir nicht sicher, ob ich das noch
wollte", erzählt Philip Gröning. Doch dann nimmt er den Faden wieder
auf. Der Prior stellt Bedingungen: Gröning darf nur allein kommen,
die Mönche nicht stören, weder künstliches Licht noch Musik
einsetzen. Gröning akzeptiert und übersiedelt für sechs Monate mit
einer Kamera und nur notwendigster Technik in eine Klosterzelle.
So entstand in einem entlegenen Gebirgstal der französischen
Alpen "Die große Stille". Ein Überraschungserfolg, bundesweit nur in
wenigen Kinos gleichzeitig gezeigt. Die vorhandenen Kopien reichen
für den stark anschwellenden Besucherstrom nicht aus. Über
100 000 Kinogänger waren bisher bereit, beinahe drei Stunden
Schweigen auszuhalten, in Bilder von schlichter, betörender
Schönheit einzutauchen.
Zunächst ist das Kloster bei Grenoble noch im Tiefschnee
vergraben. Dann setzt Tauwetter ein, Holzschindeln glänzen wie
frisch poliert. Allmählich beleben Farben das Schwarz-Weiß. Gelbe
Krokusse leuchten auf, belaubte Bäume wiegen sich im Frühlingswind.
Doch während die Natur sich fortlaufend wandelt, wiederholen sich
drinnen die stets gleichen Rituale: Beten, Essen, Arbeiten. Die
Karthäuser-Brüder seien eine Gemeinschaft von Einsiedlern, sagt der
Regisseur, "jeder bewältigt seinen Alltag allein, nur in der Kapelle
finden sich alle zusammen."
Woher die Männer kommen? Welchen Beruf sie einmal hatten? Man
erfährt es nicht. "Ich brauchte die Biographien nicht. Wer in den
Orden eintritt, streift seine Vergangenheit ab. Alles, was ich
wissen muß, sehe ich in den Gesichtern der Mönche." Auf ihnen
verweilt die Kamera minutenlang. Dann wieder pirscht sie durch
Kreuzgang und Zellen.
In einer berührenden Szene wird ein uralter Klosterbruder, den
mageren Oberkörper entblößt, von einem Jüngeren voller Hingabe
eingecremt. "Man bedeutete mir, ich dürfe das filmen. Ich erschrak,
es schien mir zu intim. Jetzt ist es ein Beispiel geworden für
Geborgenheit und Nächstenliebe bis zum Tod."
Die euphorischen Reaktionen auf "Die große Stille" beflügeln ihn.
"Der Film funktioniert, meine ganze mühsame Arbeit war nicht
umsonst. Die Menschen verstehen ihn, sie bekommen genau das, was ich
wollte." Gröning wiederum bekommt auch etwas - Auszeichnungen am
laufenden Band. Seine jüngsten Triumphe sind der Bayerische
Filmpreis für den besten Dokumentarfilm und eine Einladung zum
renommierten "Sundance Film Festival" in Utah.
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